Category: Feuilleton - 1998.05.01

Brief an eine Choreographin

Shakuhachi und Alte Kultur

Viele Grüße aus den dunstverhangenen Monsunbergen Miyamas

Alles ist möglich. Hier in Kyoto gibt es in einer No-Schule Workshops in Englisch. Auch für drei Monate. Ob man mit dieser direkten Erfahrung später allerdings ein von No deutlich beeinflusstes Tanztheaterstück entwickeln kann, ist eine interessante Frage. Ich war beim Freien Theater München, beeinflusst von Grotowskis heiligem Schauspieler, war bei Ariane Mnouchkine, aber dann, als sie Henri Quatre im Kabuki -Stil inszenierte…war ich enttäuscht. Ich denke, mehr als die Kostüme zählt das Spiel, mehr als neue spektakuläre Formen zählt der Inhalt.

Vor 20 Jahren kam ich nach Japan, sah No und war begeistert. Ich wollte ein Jahr bleiben und mit dem was ich gelernt hatte in Deutschland etwas Neues inszenieren. Das „Neue“ hat mich dermaßen gefesselt, dass ich mich zehn Jahre damit intensiv beschäftigte. Es erübrigte sich dann auch, wieder nach Deutschland zurückzukehren und ein interessantes Stück zu inszenieren, denn es entstanden durch das intensive Training viele interessante Begegnungen, die mich auf ebenso viele neue Wege führten.

So bin ich von Kyoto aufs Land gezogen, um den Ursprung des No Theaters zu erleben. Er liegt mehr in den Riten der Feste, wurzelt mehr in den Shintoistischen Reinigungsriten und den Tänzen der Landbevölkerung. In der Stadt entfernt sich die No-Kultur von ihrem Ursprung. No-Theater hat dort wenig oder gar keinen Bezug zum Alltag. Zwar sprechen die Kulturbehörden ehrfurchtsvoll vom No, Menschen aus dem einfachen Volk dagegen haben selten ein No-Stück erlebt, außer vielleicht im Fernsehen.

Ich führe seit Jahren den Kampf, diese urjapanischen Bilder auf verschiedene Arten wieder entstehen zu lassen und begreifbar zu machen. No-Stücke sind zwar ins Deutsche übersetzt, aber leider durch den Filter der christlich abendländischen Kultur. Um den Gehalt der Stücke zu begreifen, habe ich deshalb schon früh den Schlafsack geschultert und bin an diese Orte gelaufen, z.B. auf jenen Berg, auf dessen Gipfel der Tengu (Der Berg-Gott) mit dem Mönch kämpft – ein Bergasket, der durch halb taoistische, halb buddhistische Askese auf einem Wagen ohne Deichsel durch die Luft fliegt und den Menschen dient.

Das No-Theaterstück „Chikubushima“ wurde für mich lebendig und wahr, als ich mit dem Kanu über den See bis zur Insel Chikubushima paddelte. Ich war mehrere Stunden in Nebel getaucht, das Wasser war glatt wie ein Spiegel . Es war still und irgendwo hörte ich das Schreien der Vögel auf der Insel Chikubushima. Wie erfahre ich hautnah die schöne buddhistische Beschützerin der Musiker „Benzaiten“, die sich als Drache durch den Biwa-See windet und unter Trommelschlag und strahlendem Licht, gemischt mit Gischt und den schrillen Tönen einer No-Kan auftaucht? Wie höre ich den achtköpfigen Chor, der in Tönen jubelt, die aus dem festgestampften Lehm ans Tageslicht kommen, über das 6. Chakra aufgenommen werden und ungehindert emporsteigen, getragen von einem gestärkten Zwerchfell und der Einstellung „Mu“ oder „Nichts“ oder „im Nichtsforcieren liegt die wahre Stärke“? Wie finde ich den Ton, der kurz bevor er endlich fast zwischen den Zähnen entweichen will, von den Stimmbändern zurückgehalten wird, sanft abprallt, zurück kullert in den Raum, der eine Handbreit unter dem Bauchnabel liegt, und von dort klingt als käme er aus einer unsichtbaren Welt? Und auch hier: durch die Technik der Zurückhaltung in größter Spannung der Ausdruck im Nichtausdruck. Das ist Japan pur.

Und ich sitze inmitten der Sänger und der prächtige Brokat-Kimono rauscht vorbei und da ist sie, die Schutzparonin der Musiker „Benzaiten“ mit der Laute, als Drache eben noch aus dem See erschienen und nun eine schöne Frau im Brokat. No lebt von verinnerlichten Bildern und spiegelt sich in den Bewegungen und im Gesang, in den Masken. Eine Maske wird durch die hohe Kunst des „Ausdruck-ohne-ausdrücken-zu-wollen-Tanzes“ beleuchtet. Es gibt eine Gruppe von ausländischen Schauspielern, die No und Kyogen studieren. Einige von ihnen geben dann und wann öffentliche Aufführungen alter oder moderner No-Stücke, die sie neu interpretieren. Aber all zu oft schauen die Augen der Sänger elegisch auf das, was sie sich vorstellen wollen. Aber im No gibt es nichts Vermeintliches, kein so-als-ob. Ein No Schauspieler schaut ohne Bewertung, scheinbar abwesend und doch hochkonzentriert, auf das TAN-DEN. Augen, in die man sich verlieren kann und eintaucht wie in einen nachtschwarzen Mar oder in den Trichter eines Blackholes aus dem es kein Zurück mehr gibt. Im Nicht-Wollen spiegelt sich das Mögliche, aber das muss erlebt werden.

Die Japanische Kunst lebt vom „Zettai No Ma“, dem absoluten Timing, das nur hier und jetzt unwiederrufbar Gültigkeit hat, und mit einer absoluten Entscheidung, die nur mit Hilfe des aktivierten Unterbewusstseins getroffen werden kann. „Ma“, Zeit und Raum kann nicht ausgezählt werden wie die Pausen in der klassischen Musik. Wie bringen Sie ihre Tänzer dazu, das „absolute Timing“ zu verinnerlichen? Es ist sicherlich nicht mit einem dreimonatigen Workshop im No-Theater getan, denn da sind sie beschäftigt, die Schritte zu lernen und den Text zu verstehen.

Ich praktiziere zum Beispiel Seillaufen, um das richtige Gehen aus der fixierten Hüfte zu trainieren. Das brachte mich zu einem Vergleich der Schritte im No-Tanz und beim Seillaufen. Es gibt eine Angst vor dem Fallen beim No-Tanz. Genau wie beim Seillaufen. Es ist wahrscheinlich diese schwierige Form der Bewegung, die Füße über den Boden gleiten zu lassen, nie den Kontakt zu verlieren und die Auf-und Ab-Bewegung mit gebeugten Knien zu kompensieren.

“Angst beim No-Tanz und Angst beim Seillaufen.”

Das war das Thema eines Artikels, den ich für die Japanische Zeitschrift (Asahi) Aera schreiben sollte. Die Frage ist, wie bringen Sie Ihre Tänzer in den psychisch determinierten No-Zustand. Ein No-Stück lebt natürlich von seinen farbenprächtigen Kostümen und aus der wundervollen Lyrik, aber was weitaus wichtiger ist: Es lebt vom Höchsten an Konzentration und – wie die Japaner sagen – MUSHIN (Kein Herz – No Mind). Wie bringen Sie Europäer dazu, die für sie wichtige Ich-Präsenz aufzugeben und sich in dieses „Black Hole“ des „No Mind“, in den schwarzen Schlund eines implodierenden Sterns zu werfen und eine Reise durch den Kosmos anzutreten, fremde Welten zu erfahren und nicht mehr der zu sein, der man vorher war.

Was agiert denn auf der Bühne, wenn nicht der Akteur? „ES“ agiert und deshalb ist No so spannend. Die höchste Kunst der gehobenen Unterhaltung. Der Shite macht drei Schritte, bleibt stehen und die Zuschauer sehen ihn weitergehen. Die No Bühne ist unendlich weit. Im Nicht-Ausdruck weitet sich der Raum. Eine starke innerliche Vorstellungskraft lässt die Zuschauer die gesungenen Bilder erfahren. Sie reisen mit. Zeit und Raum in Hülle und Fülle!

Aber was erzähle ich Ihnen… vielleicht wollen Sie einfach nur ein interessantes Tanztheaterstück schaffen, ungewohnte Formen finden…Vielleicht sind Sie gesellschaftlich engagiert oder auch offen für Phänomene, die sich nicht physikalisch messen lassen… Das Neue im Alten zu finden ist eine berechtigte Hoffnung, denn irgend etwas muss daran sein, wenn ein No-Theater-Stück 400 Jahre lang aufgeführt wird ohne langweilig zu werden.

Mein Vorschlag: Gewinnen Sie mich als Musiker für Ihre Produktion. Damit schlagen sie zwei Fliegen mit einer Klappe. Sie haben den authentischen Klang der Shakuhachi und einen Ver-Mittler zwischen den Welten, der den Schauspielern und Tänzern das Phänomen „Zettai No Ma“ vielleicht ein wenig näher bringen kann. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg und – wie gesagt – alles ist möglich im Nicht-Wollen. Ihr Mitstreiter für ein neues altes neues Verständnis von Kunst

Uwe Walter, Kyoto